"The Florida Project": Ein Zauberreich für die Zurückgelassenen - Filmkritik (2024)

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Die Sommerferien haben begonnen. Moonee, Dicky und Scooty haben viel Zeit, um auf Autos zu spucken, Fenster in Geisterhäusern einzuwerfen, auf Safari zu gehen. Ihr Spielplatz ist ein Sumpfgelände, von Highways auseinandergeschnitten, mit merkwürdigen Fixpunkten: ein Eisladen in Form einer Eiswaffel, ein Supermarkt in Form einer Orange. Über die "Straße der Sieben Zwerge" erreichen sie ihr Zuhause, das purpurne "Magic Castle". Disneyworld, der "magischste Ort auf Erden" für alle, die jung im Herzen sind, liegt nur einen Steinwurf entfernt.

Das "Magic Castle" ist ein schäbiges Motel in Kissimmee, Florida. Die Zimmer kosten 35 Dollar die Nacht, aber Touristen verschlägt es nur hier her, wenn sie "Castle" und "Kingdom" verwechseln. Und wenn sie es merken, sind sie schnell wieder weg. Die meisten Bewohner leben ständig hier, mit obligatorischem Zimmerwechsel einmal im Monat. Es ist die letzte Station für viele, bevor sie auf der Straße landen. Wie Moonees Mutter Halley, selbst noch kaum erwachsen, die mit Strippen, Schnorren und Touristenabziehen Woche für Woche versucht, das Geld für ihr Zimmer aufzutreiben.

Für die sechsjährige Moonee ist das alles kein Problem. Für sie ist das Motel mit dem lila Anstrich und den weißen Pseudo-Zinnen, den in der feuchtschwülen Luft verschimmelnden Matratzen und verrostenden Klimaanlagen, das "Abenteuerland", für dessen offizielle Disney-Version nebenan sie sich den Eintritt niemals leisten könnte. Ihrer neuen Freundin Jancey, die im "Futureland Inn" unter ähnlichen Bedingungen wohnt, gibt sie zu Beginn des Films eine kleine Tour wie durch einen Themenpark: hier wohnt der Typ, der immer verhaftet wird, hier die Frau, die mit Jesus verheiratet ist, da die mit den kranken Füßen.

"The Florida Project": Ein Zauberreich für die Zurückgelassenen - Filmkritik (1)

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"The Florida Project": No-Future-Land

Foto: Prokino

Das Motel mag eine Fake-Ausgabe eines Disney-Schlosses sein, doch die Bilder von "The Florida Project" haben die Qualität von großem Kino. Nachdem Sean Baker seinen letzten Film "Tangerine L.A." komplett auf iPhones drehte und ihm durch Cinemascope und grelle Farben einen künstlichen Bigger-Than-Life-Look gab, hält er nun sein Zauberreich der sozialen Absteiger auf teurem 35-Milimeter-Filmmaterial fest. In beiden Filmen setzt er auf den Kontrast zwischen US-amerikanischen Traumwelten und der unmittelbaren Realität der Straße.

Die Strategien von Sean Baker

Bakers erzählerische Strategie zielt dabei immer in zwei Richtungen: Einerseits hält er aus der Sicht derjenigen, die am bürgerlichen Rand das Recht auf eigene Träume verteidigen, an der illusionistischen Kraft von Hollywood und Disneyworld fest; andererseits überprüft er, wie deren Ausschlussmechanismen funktionieren, damit sie keine Armen und Außenseiter auf ihrer Party und in ihren Themenparks begrüßen müssen.

Mit dem "Florida Project" hatte Walt Disney in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts höchstpersönlich versucht, stadtplanerische Visionen umzusetzen, eine eigene Community ohne Kriminalität, reglementiert bis in die Kleiderordnung und natürlich nur für die, die arbeiten. Reste dieser Idee wurden in der Kleinstadt "Celebration" verwirklicht, in der seit der Immobilienkrise ganze Viertel leer stehen, durch die jetzt Moonee und ihre Freunde streifen, mit dem Kool&The-Gang-Song "Celebration" als Soundtrack: "Let's all celebrate and have a good time!"

The Florida Project
USA 2017
Regie:
Sean Baker
Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch
Darsteller: Brooklynn Prince, Bria Vinaite, Willem Dafoe
Produktion: Cre Film, Freestyle Picture Company, June Pictures
Verleih: Prokino Filmverleih
FSK: ab 12 Jahren
Länge: 111 Minuten
Start: 15. März 2018

Wenn sich die Kamera mal auf die Augenhöhe von Erwachsenen begibt, bleibt sie an Willem Dafoe hängen. Als einziger professioneller Darsteller in diesem Film spielt er Bobby, den Manager des "Magic Castle", dessen Aufgabe es ist, den seriösen Eindruck des Hauses aufrechtzuerhalten - eine Gratwanderung zwischen Beobachtung und Anteilnahme. Der Boss sitzt Bobby im Nacken, die Eismaschine ist schon wieder kaputt, Geld ist zwar da für den farbigen Hausanstrich, aber nicht für den Kammerjäger. Aus dieser Perspektive enthüllt sich das "Magic Castle" als absurdes Setting mühsam übertünchter sozialer Härten, die wenig mit der behaupteten Magie zu tun haben. Aus Kinder-Perspektive, also etwa 1,20 Meter über dem Boden, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.

Fluchen und raufen

Es sind allerdings nicht Disney-Kinderfilme, an denen sich Sean Baker orientiert. Seine jungen Darsteller improvisieren, vermessen den realen Raum nach eigenen Regeln, fluchen, raufen, machen sich einen eigenen Reim auf die Gewalt und das Elend, das sich vor ihnen abspielt. Dabei wird keine falsche Poesie entwickelt. Auch die magischen Orte von Moonee verengen sich am Ende - bis hin zum letzten Close-Up von Halley, die wutentbrannt ein letztes "f*ck You!" schreit.

Warum der Regisseur eines der größten Talente des sozial engagierten Kinos ist, kann man an seiner ästhetischen Haltung festmachen: Er macht aus den wilden Bewegungen und Überlebensstrategien seiner jungen Helden den klassischen Kinderfilm, den sich Disney nie getraut hat.

Denn ein traumhaftes Happy End gibt es in "The Florida Project" eben doch noch: "Celebration" kommt da noch mal in Orchesterbesetzung, mit aufschmalzenden Streichern. Und endlich sehen wir es auch, das Schloss von Schneewittchen, das echte "Magic Kingdom". Auf touristischen Handyaufnahmen zwar, aber auf 35mm sieht auch das wie großes Kino aus.

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Author: Arielle Torp

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